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Nahezu jeder zweite alte Mensch ist von Inkontinenz betroffen 

Es ist so beschwerlich: Aufstehen, zur Toilette gehen, den Hosenknopf lösen. Und wenn‘s pressiert, ist es auch oft schon zu spät. Dann ist die Unterhose feucht und das Umziehen so mühsam. Der Gang zur Toilette kann im Alter zur Qual werden. Besonders nachts, wenn die Müdigkeit dazu kommt und sich die Sturzgefahr erhöht. „Viele Patienten sagen uns, sie haben das Problem schon seit Jahren, aber noch mit niemandem darüber gesprochen“, sagt Simone Hartmann-Eisele. Die Expertin für Kontinenzförderung arbeitet im Heidelberger  Agaplesion Bethanien Krankenhaus. Das Geriatrische Zentrum bietet  Kontinenzberatung bereits seit den 90er Jahren für seine betagten Akut- und Rehapatienten an. Neben regelmäßigen Kontinenzvisiten gibt es insbesondere Beratung zur individuellen Kontinenzförderung wie Toilettentraining oder zum Einsatz von Hilfsmitteln. Das Krankenhaus  nimmt damit eine Vorreiterrolle  ein. Trotz des hohen Bedarfs sind solche Angebote durch speziell weitergebildete Pflegefachkräfte bisher absolute Mangelware.

Dabei zeigen Studien, dass mit zunehmendem Alter auch die Harn- und Stuhlinkontinenz steigt. Die Deutsche Kontinenz Gesellschaft geht insgesamt von gut neun Millionen Betroffenen aller Altersgruppen aus, etwa jede vierte Frau und jeder achte Mann leiden unter Inkontinenz. In Pflegeheimen seien bis zu 74 Prozent der Bewohner inkontinent, Tendenz steigend.

Während 30 Prozent der Betroffenen Inkontinenz als mit dem Alter verbundenes Schicksal hinnehmen  und oftmals aus Scham noch nicht einmal mit ihren Familienangehörigen geschweige denn mit ihrem Arzt darüber sprechen, betont die Deutsche Kontinenz Gesellschaft, Inkontinenz sei in den meisten Fällen heilbar. Die Ursachen sind vielfältig –  es können Beckenbodenschwächen nach Geburten sein oder Prostatavergrößerungen, neurologische Störungen nach Schlaganfällen, Diabetes oder demenzielle Erkrankungen. Ebenso mannigfaltig  sind die Behandlungsmethoden. Sie reichen etwa von Beckenbodentraining über Medikamente, die den Harndrang mindern, bis zu operativen Eingriffen. Hilfsmittel wie Vorlagen, Katheter oder Urinalkondome  machen die Teilnahme im Alltag wieder möglich.

Manche Kommunen reagieren inzwischen auf die Volkskrankheit Inkontinenz mit Toilettenführern, Gastronomen bieten die  Aktion „die nette Toilette“ an, und in einigen Städten gilt bereits eine Gebührenbefreiung für das Entsorgen des voluminösen Inkontinenzmaterials. Alles Schritte, um die Krankheit aus der Tabuzone zu holen.

 „Inkontinenz ist lange nicht mehr so schambesetzt wie vor 20 Jahren“, sagt  auch die Geschäftsführerin der Deutschen Kontinenz Gesellschaft, Christa Thiel. Inzwischen konnte die gemeinnützige medizinisch-wissenschaftliche Fachgesellschaft rund 1.290 ärztliche Beratungsstellen und gut 71 interdisziplinäre Kontinenz- und Beckenbodenzentren zertifizieren. 1990 erkannte auch das Bundessozialgericht Inkontinenz als Krankheit an, seitdem können Ausgaben für Hilfsmittel erstattet werden. Ab Januar sitzt die  Deutsche Kontinenz Gesellschaft in der Friedrichstraße 15  in Frankfurt.  Informationsbroschüren sowie  Auskunft über Beratungsstellen und Kontinenzzentren gibt es auch im Internet unter www.kontinenz-gesellschaft.de.

Susanne Schmidt-Lüer