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Der Schock ist meistens heftig. Immer einmal wieder wird die Öffentlichkeit von Berichten über Missstände  und – schlimmer noch – Gewalt gegen alte Menschen etwa in Pflegeheimen aufgeschreckt. Das geht von Bildern wundgelegener Greise über Fixierungen im Bett oder Rollstuhl bis hin zu Klagen über Schläge oder Anschreien. Die Formen von Gewalt gegen alte Menschen sind vielfältig und längst nicht auf direkte körperliche Angriffe beschränkt. Und sie sind ernst zu nehmen.

Eine von der Europäischen Union geförderte Studie der evangelischen Hochschule Ludwigsburg in sieben europäischen Ländern hat festgestellt, dass eine „bedeutende Zahl“ von Menschen innerhalb eines Jahres vor Befragung (die Studie wurde 2013 veröffentlicht) Gewalt in unterschiedlicher Form erfahren hatte. Übertragen auf die Gesamtbevölkerung der 60- bis 84-Jährigen ergäbe dies laut Studie eine Anzahl von 350.000 Menschen.

Die Forscher haben detailliert nach der erfahrenen Gewalt gefragt und dabei Unterschiede festgestellt, je nachdem, aus welchem Land die Befragten stammten oder welches Geschlecht sie hatten. Sie haben auch nach den unterschiedlichen Formen von Gewalt gefragt: Physische Gewalt wie Schläge oder Fixierungen, psychische Gewalt wie Anschreien und Beleidigungen, finanzielle Gewalt wie erzwungene Geldübergabe oder Drohungen..

Gewalt hat viele Gesichter

Die Gesetzeslage in Deutschland erlaubt es zum Beispiel nicht, einen Menschen an seinem Bett oder im Rollstuhl zu fixieren, ohne dass ein Richter dies geprüft und genehmigt hat – etwa, weil der Betroffene sich selbst gefährden könnte. Und doch wird nach Ansicht von Experten die Fixierung oft genug genehmigt, ohne dass eine Selbstgefährdung vorliegt beziehungsweise obwohl andere Schutzmöglichkeiten vorhanden wären. Auch „Tricks“, mit denen etwa Demenzkranke am Weglaufen gehindert werden sollen, wie nicht erkennbare Türen oder schwierige Öffnungsmechanismen, sehen manche Kritiker als Freiheitsberaubung und daher eine Form von Gewalt an.

Wo aber liegen die Ursachen, wenn Pflegende, Betreuer, Angehörige gegenüber alten Menschen gewalttätig werden? Sind diese Menschen gefühllos, brutal? Die Gründe sind vielfältig und die Wissenschaft hat dazu verschiedene Theorien entwickelt. Familiäre Abhängigkeiten, die sich im Alter umkehren, werden zum Beispiel angeführt. Auch sozial erlerntes Verhalten, welches durch das gesellschaftliche Umfeld beeinflusst wird, kann solche Auswirkungen haben. Häufig wird die Überlastung von Pflegepersonen angeführt, Stichwort: Pflegereform oder Pflegenotstand. Wer nach den Gründen für Gewalt gegen Ältere forscht, sollte nicht nur die einzelne, Gewalt ausübende Person betrachten. Vielmehr muss er zwangsläufig fragen, ob nicht auch die Strukturen unserer Gesellschaft und der Pflege alter Menschen Gewalt befördern.

Strukturelle Ursachen

Pflege im Minutentakt, Personalmangel und hoher Arbeitsdruck werden immer wieder genannt, wenn stationäre Einrichtungen oder ambulante Pflegedienste kontrolliert werden. Die hohe Zahl Beschäftigter mit nichtdeutschem Hintergrund, die oft verzweifelte Suche nach Fachpersonal werfen ein Licht auf die Herausforderungen, vor die der demografische Wandel, also die immer größere Zahl alter und pflegebedürftiger Menschen die Altenpflege stellt. Unnötige Fixierungen, Vernachlässigung, Pflege im Eiltempo, die keine Kommunikation oder Zärtlichkeit erlaubt, kommen daher immer wieder vor. Am ehesten leiden die Personen unter solchen Zuständen, die keine Angehörigen oder Betreuer haben, die sich um sie kümmern, die durch regelmäßige Besuche Nachlässigkeiten schneller wahrnehmen und monieren.

Fachkräfte sind rar und die Betreiber von Pflegeheimen haben oft Mühe, die vorgeschriebene Zahl der Examinierten auch einzustellen. Werbeaktionen für Berufe in der Altenpflege und innovative Ideen nehmen daher zu. Der Frankfurter Verband für Alten- und Behindertenhilfe etwa bietet seinen ungelernten Kräften seit mehr als einem Jahr die Weiterbildung zur Fachkraft berufsbegleitend an – mit großem Erfolg (siehe SZ 3/13).

Hilfe annehmen

Aber auch im privaten Bereich kommt es nicht selten zu Überforderung des Pflegenden. Oft spitzt sich die Situation dort noch schneller zu, weil die familiären Beziehungsgeflechte kaum erlauben, innerlich Abstand zu gewinnen oder die Lage zu entschärfen, indem man räumlich Abstand nimmt. Auch liegt dort die Pflege oft auf den Schultern Einzelner – sei es, dass diese keine Unterstützung bekommen, sei es, dass sie sie nicht annehmen oder nicht über Hilfeangebote informiert sind. Häufiger noch als in stationären Einrichtungen bleibt im privaten Bereich Gewalt gegen alte Menschen verborgen. Die Betroffenen sind oft in einer abhängigen und hilflosen Lage und haben keine Möglichkeit, um Hilfe nachzusuchen.

Schon seit einigen Jahren gibt es die Aktion „Handeln statt Misshandeln“, die sich dieses Themas annimmt. An die Berater am Notfalltelefon können sich von Gewalt Betroffene wenden. Aber auch für Pflegepersonen, die fürchten, selbst gewalttätig zu werden, sind die Berater da, genauso wie für Pflegepersonal, das Gewalttätigkeit beobachtet. Das Team der Frankfurter Initiative gegen Gewalt im Alter besteht aus Juristen, Sozialgerontologen, Psychologen, Ärzten,rechtlichen Betreuern, sowie Altenpflegerinnen. Beratungen sind möglich auch in türkisch, polnisch, amharisch (äthiopische Sprache) und Tigringa (eritreische Sprache). 
Die Sprechzeiten:
 jederzeit nach telefonischer Terminvereinbarung,
Frankenallee 144 (Quartierspavillon Quäkerwiese), 60326 Frankfurt,
Telefon (montags bis freitags): 069-24 24 06 66,
E-Mail: hsm-frankfurt@t-online.dewww.hsm-frankfurt.de.

Lieselotte Wendl