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Gewalt gegen Ältere ist immer noch ein Tabuthema. Forderungen zur Prävention gibt es schon lange, auf EU-Ebene liegen jetzt konkrete Empfehlungen vor.

Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Bei einer repräsentativen Forsa-Umfrage „Gewalt im Kontext Pflege“ aus dem Jahr 2012 sahen 72 Prozent der Befragten Handlungsbedarf beim Thema Gewalt gegen Kinder –aber nur
35 Prozent fanden dies notwendig bei Gewalt, die sich gegen alte Menschen richtet, und lediglich sieben Prozent hielten dies bei Demenzkranken für erforderlich. Das Zentrum für Qualität in der Pflege hatte die Online-Befragung von 1.000 Bundesbürgern ab 16 Jahren beauftragt. Es folgert aus den Zahlen, dass Gewalt im Zusammenhang mit Pflege immer noch stark tabuisiert wird.

Um das Thema ins Bewusstsein zu holen, hatte sich 1999  die Bundesarbeitsgemeinschaft der Krisentelefone, Beratungs- und Beschwerdestellen für alte Menschen gegründet. Ihr Ziel war es damals wie heute, die Lebenssituation alter Menschen zu verbessern, Gewaltsituationen zu bewältigen und die Öffentlichkeit für die Bedürfnisse Älterer und Pflegender gleichermaßen zu sensibilisieren. 17 Einrichtungen unterschiedlicher Träger zählt die Bundesarbeitsgemeinschaft zurzeit. Ein Tropfen auf den heißen Stein  angesichts von sich fortsetzender physischer und psychischer Gewalt gegen Senioren und freiheitsentziehenden Maßnahmen, die in die Hunderttausende gehen.

Mit Prävention für Ältere befasst sich im hessischen Landespräventionsrat  eine eigene Arbeitsgruppe. Sie schlug 2009 vor, ein gesetzliches Recht auf gewaltfreie menschenwürdige Pflege zu statuieren und Grundlagen für staatliche Interventionen zu schaffen, vergleichbar den Rechten und Pflichten von Jugendämtern. Damit griff sie Überlegungen des Deutschen Familiengerichtstags aus dem Jahr 2005 zu familialer Gewalt im Alter auf.

In Frankfurt verweist  Ute Glasemann vom Verein „Handeln statt Misshandeln“ in diesem Zusammenhang gerne auf die Pflege-Charta, die die Rechte Pflegebedürftiger auf würdevolle Pflege festhält und auch schon in verschiedene Gesetzestexte mit einfloss. Die Sozialgerontologin Glasemann gründete 2009 gemeinsam mit anderen Fachleuten den Frankfurter Verein „Handeln statt Misshandeln“. „Wir waren damals der dritte Verein in Deutschland“, sagt die Praktikerin. Am Beratungstelefon des unabhängigen Vereins melden sich schon mal erwachsene Kinder, die verzweifelt von Schlägen des Vaters gegen die pflegebedürftige Mutter berichten. Auch Mitarbeiter von Pflegediensten rufen an, weil sie sich die Hämatome älterer Damen, die von ihren Söhnen versorgt werden, nicht erklären können. Glasemann berät, leitet an andere Stellen weiter, setzt sich mit Betreuungsrichtern in Verbindung. Im Falle des Sohnes, der seine alte Mutter misshandelte, stellte sich heraus, dass er selbst als Kind von ihr Gewalt erfahren hatte. „Das ist für niemanden ein Grund, selbst zu misshandeln“, betont Glasemann. Deeskalationstraining, Schulung von  Angehörigen und Pflegekräften sind Antworten. Doch Einblicke in die häusliche Pflege sind sowieso selten: „Das, was hinter verschlossenen Türen mit den Eltern oder Tanten passiert, wissen wir nicht.“

Viel getan hat sich in den vergangenen Jahren in Frankfurt hingegen bei gerichtlich angeordneten freiheitsentziehenden Maßnahmen. Was das angehe, sei Frankfurt „einmalig“, sagt Glasemann. So werde ein hoher Teil der Anträge auf  Bettgitter vom Amtsgericht abgelehnt. Diese sogenannten Bettseitenteile sollen verhindern, dass Hilfebedürftige selbstständig ihr Bett verlassen können. Glasemann arbeitet als Verfahrenspflegerin und ist damit beteiligt an Verfahren vor dem Amtsgericht. Sie sieht es als weiteren Fortschritt, dass Verfahrenspfleger in Frankfurt besonders  für Alternativen zu freiheitsentziehenden Maßnahmen sensibilisiert würden.  Sie wünscht sich insgesamt eine stärkere Vernetzung der beratenden Akteure. Und sie setzt auf  gemeinsame Aktionen wie den Entwurf eines Standardbriefes an das Sozialgericht, damit dieses mehr niedrige Betten genehmigt, die Bettgitter von vorneherein unnötig machen.

Die Profis von „Handeln statt Misshandeln“ wissen, dass es umgekehrt auch Gewalt gegen Pflegende gibt. „Ich höre es direkt in den Pflegeheimen, dass junge Pflegekräfte von Bewohnern am Arm gepackt werden, bis sie blaue Flecken bekommen, oder Faustschläge auf den Kopf erhalten.“ Der Verein setzt auch in solchen Fällen auf Supervision und Deeskalationstraining.  Glasemann ist überzeugt, dass Gewalt in großen Pflegeheimen auch ein strukturelles Problem ist: „In Wohngruppen, die viel überschaubarer sind und mehr Personal haben, gibt es weniger Gewalt.“

Wer in Frankfurt selbst betroffen ist oder Gewalt gegen Pflegebedürftige beobachtet, kann sich auch an das Sozialrathaus im Stadtteil oder an den Pflegestützpunkt im Rathaus für Senioren wenden.

Fachleute gehen davon aus, dass Gewalt in Pflegesituationen im häuslichen Umfeld viel häufiger vorkommt als in stationären Einrichtungen. Sie fordern, Ärzte zu sensibilisieren und darüber nachzudenken, ob Vorsorgeuntersuchungen für Ältere in regelmäßigen Abständen sinnvoll seien, um Gewalt sichtbar zu machen und aus der Grauzone zu holen.

 Auf ein wachsendes Bewusstsein von Hausärzten oder Sozialarbeitern für Indikatoren und Risikofaktoren von Gewalt setzt auch das EU-Projekt milcea. Es entwickelte Rahmenempfehlungen für ein Monitoring-System zur Gewaltprävention für ältere Menschen. Darin wird unter anderem gefordert, Anreize für Allgemeinmediziner zu schaffen, damit sie in die Anamnese Gewalt gegen Ältere einbeziehen und angemessene Maßnahmen einleiten.

Susanne Schmidt-Lüer

Links:

Zentrum für Qualität in der Pflege, Hilfsangebote bei Aggression und Gewalt in der Pflege http://gkp.zqp.de/

Handeln statt Misshandeln, Frankfurter Initiative gegen Gewalt im Alter

http://www.hsm-frankfurt.de/base/adressen.php

Pflegestützpunkt der Stadt Frankfurt am Main
http://gesundheits-und-pflegeberatung.de/html/frankfurt_m_.html

Sozialrathäuser der Stadt Frankfurt am Main
http://www.frankfurt.de/sixcms/detail.php?id=3505&_ffmpar%5B_id_inhalt%5D=54300

Charta der Rechte hilfe- und pflegebedürftiger Menschen (2005)

http://www.pflege-charta.de/

EU-Projekt für ein Monitoring zur Gewaltprävention

http://www.milcea.eu/PDF/Milcea-deutsch-Internet.pdf