Aktuelle Ausgabe zum Lesen  eye   zum Hören  ear
Schriftgröße  

Interview mit dem Leiter des Justina von Cronstetten Stiftes und Sachbuchautor Michael Graber-Dünow

Senioren Zeitschrift: Herr Graber-Dünow, hört mit dem Einzug in ein Pflegeheim die Selbstbestimmung in weiten Teilen auf oder kennen Sie positive Beispiele, dass Bewohner eigene Möbel mitnehmen und den Tagesablauf nach eigenen Bedürfnissen gestalten können?

Michael Graber-Dünow: Wenn ich in ein Pflegeheim ziehe, wechsle ich die Wohnung und möchte auch dort meinen Privatbereich haben, also ein Einzelzimmer. Ich muss den Raum so gestalten können, wie ich das gerne möchte. Auch den Tagesablauf muss der alte Mensch möglichst so leben können wie zuvor, ohne sich an den Anforderungen der Institution neu orientieren zu müssen. Je individueller die Bewohner leben möchten, desto zeit- und personalintensiver ist das aber für das Heim.

SZ: Wie klappt die Selbstbestimmung der Bewohner denn im Alltag der Frankfurter Pflegeheime?

Graber-Dünow: Darüber maße ich mir kein Urteil an, aber ich denke, dass die Heime in Frankfurt im Vergleich zu vielen anderen Regionen sehr fortschrittlich sind und dass sie sich um solche Inhalte bemühen.

SZ: Wie ist es in Ihrem eigenen Haus, dem Justina von Cronstetten Stift?

Graber-Dünow: Nach einem Umbau haben wir nun ausschließlich Einzelzimmer. Wir ermöglichen es unseren Bewohnern, sie selbst zu möblieren, nur das Pflegebett bleibt stehen. Im Tagesablauf bieten wir von-bis-Zeiten an, also beispielsweise Frühstück von 7.30 bis 10 Uhr, mit der Option für Langschläfer, Kaffee und Brötchen auch um 10.30 oder 11 Uhr nachgereicht zu bekommen. So vermeiden wir auch belastende Arbeitsspitzen in der Pflege. Wenn hingegen um 8 Uhr alle Bewohner am Frühstückstisch sitzen müssen, sind alle „fertig“ inklusive der Pflegenden. Abends ermöglichen wir Bewohnern mit einem Spätdienst, der bis 21.30 bleibt und einem späten Spätdienst, der um 23 Uhr geht, zu einer Uhrzeit ins Bett zu gehen, die ihnen liegt. Allerdings ist es nicht attraktiv, zwischen 18 und 21 Uhr im Speiseraum zu sitzen und die Wand anzugucken. Wir veranstalten daher beispielsweise wöchentliche Spieleabende und regelmäßig Dämmerschoppen.

SZ: War die Erkenntnis, dass es in vielen Einrichtungen anders läuft, einer der Auslöser für Ihr neues Buch „Pflegeheime am Pranger?“

Graber-Dünow: Ja. Es gibt auf der einen Seite einen konzeptionellen Spielraum, den es auszunutzen gilt. Aber auf der anderen Seite herrschen Rahmenbedingungen, die Heime ein Stück weit zwingen, einen normierten Tagesverlauf anzubieten, um Personal einzusparen. Für mich ist das Buch auch mit der Forderung verbunden, diese Rahmenbedingungen zu ändern, um bewohnerorientierte Einrichtungen schaffen zu können.

SZ: Was muss sich ändern?

Graber-Dünow: Das fängt bei der viel zu schlechten Personalbemessung an. Wir diskutieren darüber, seit ich in der Altenpflege bin, also knapp 40 Jahre, aber das ist immer noch ein Knackpunkt. Auch die völlige Bürokratisierung der Pflege zählt dazu und die Überregulierung der Heime. Kontrolle muss sein, aber nicht in der heute herrschenden Form. Wir müssen zudem gesellschaftlich darüber nachdenken, ob es wirklich sinnvoll ist, dass man mit Pflege Geld verdienen kann. Aus meiner Sicht war die Freigabe des Pflegemarktes ein Sündenfall. Es gibt Einrichtungen, die sind börsennotiert und werfen saftige Renditen ab, aber den Heimleitungen vor Ort wird vorgeschrieben, pro Bewohner nur eine Windel am Tag zu benutzen. In der bundesdeutschen Altenpflege-Realität läuft ganz, ganz viel falsch.

SZ: Es gibt Staaten, die die Altenpflege steuerfinanzieren. Wäre das eine Lösung?

Graber-Dünow: In Deutschland haben wir momentan zwei Systeme, die parallel laufen: die Pflegekasse und bei mehr als der Hälfte der Bewohner noch als weiteren Kostenträger das Sozialamt sowie den Eigenbeitrag. Da liegt der Schluss nahe, dass die Pflegeversicherung das Ziel nicht erreichte, die Menschen vor dem Abgleiten in die Sozialhilfe zu bewahren. Warum legen wir Pflegeversicherung und Sozialhilfe nicht zusammen und nutzen die Synergieeffekte, um mehr Geld für Pflegepersonal bereitzustellen? Wenn die Pflegeversicherung durch ein steuerfinanziertes System ersetzt wird und es zugleich verboten wird, mit Pflegeheimen Profite zu machen, könnten wir wunderbar zusätzliche Pflegekräfte finanzieren. Leider gibt es keine politische Partei, die das fordert.

SZ: Wird denn in Staaten, die Altenpflege aus Steuermitteln finanzieren, tatsächlich mehr Pflegepersonal eingestellt?

Graber-Dünow: Das steuerfinanzierte dänische System hat mich sehr beeindruckt. Dort sind die Verhältnisse wirklich besser. Es gibt mehr Pflegepersonal und seit mehr als 20 Jahren ist das Recht auf ein Einzelzimmer gesetzlich verbrieft. Die Dänen legen sehr viel mehr Wert auf Privatheit und damit auf die Wahrung der Würde von Pflegeheimbewohnern. 

Interview: Susanne Schmidt-Lüer