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SZ-Interview mit Betreuungsrichter Axel Bauer (Frankfurt am Main)

SZ: Herr Richter Bauer, was bedeutet eigentlich Selbstbestimmungsrecht für alte Menschen im Pflegeheim?

Axel Bauer: Wie für alle anderen erwachsenen Menschen auch bedeutet es, jeden Unsinn anstellen zu können, den man will. Da kann man sich alle Verrücktheiten der Welt vorstellen, ebenso wie ganz „normale“ Dinge wie Rauchen, Alkohol trinken, Geld für das auszugeben, was einem gefällt. Dazu gehört aber auch, sich nicht an vorgegebene Regeln zu halten, oder sich etwa nicht waschen zu lassen. Grenze ist dabei allerdings immer die erhebliche Eigengefährdung bei nicht zur freien Willensbestimmung fähigen Personen und die gravierende Beeinträchtigung der Rechte Anderer.

Aber im Pflegeheim gibt es doch feste Regeln, da wird erwartet, dass sich die Bewohner daran halten.

Da sprechen Sie einen wesentlichen Punkt an, der das Selbstbestimmungsrecht einschränken kann: die Reglementierung des Tagesablaufs in einem Pflegeheim. In vielen Einrichtungen herrscht ab 17 Uhr so etwas wie Grabesruhe. Dann ist das Abendessen bereits abgeschlossen und die alten Menschen werden ins Bett gebracht – anders als sie es in der Regel von ihrem früheren Zuhause gewohnt sind. In einem normalen Haushalt dagegen beginnt um 20 Uhr das Leben, man sitzt zusammen, geht aus, liest oder macht sonst was. Alte Menschen wollen ebenfalls ihr Leben so weiter führen, wie sie es gewohnt sind – auch im Pflegeheim. Deshalb sind auch viele Pflegeheime heute nicht mehr voll belegt und das ist gut so. Es zwingt die Heimleitungen, darüber nachzudenken, wie sie ihre Konzepte auf die bei ihnen wohnenden Menschen ausrichten können. Sie müssen damit rechnen, dass die nun alt werdende 68er-Generation sich eine solche Reglementierung nicht ohne weiteres gefallen lassen wird, wenn sie ein Pflegeheim bezieht.

Die Heimleitungen begründen gewisse Einschränkungen oft damit, dass sie die Verantwortung dafür tragen, dass Pflegebedürftige nicht  davonlaufen, stürzen oder sich irgendwie verletzen. Müssen sie dann nicht haften, wenn etwas passiert?

Wenn man in die Heimverträge schaut, stellt man fest, dass eine lückenlose Überwachungspflicht und umfassende Haftung in der Regel gar nicht besteht. Jedenfalls nicht um jeden Preis und vor allem nicht um den des Eingriffes in die Freiheit und das Selbstbestimmungsrecht der Bewohner. Der Charakter eines Heimes als Überwachungsanstalt stört mich persönlich und schreckt wohl viele Menschen ab. Man muss fragen, welches Bild vom alten Menschen dahintersteht. Es geht doch um Fürsorge und weniger um Aufsicht. Aber auch aus Fürsorge kann schnell fürsorglicher Zwang werden. Selbstbestimmung ist keine Gnade, sondern eine Selbstverständlichkeit. Da muss man auch ertragen können, dass einmal jemand vorübergehend nicht auffindbar ist.

Das kann aber bei demenzkranken Menschen dazu führen, dass sie das Haus verlassen und nicht mehr zurückfinden. Wie kann man das verhindern?

Da müssen Konzepte der Pflege überdacht werden. Wenn jemand dement ist und verloren zu gehen droht, muss er eben begleitet werden, wenn er das Haus verlässt. Man sollte mehr Fantasie und Kreativität von den Heimen erwarten, wie sie mit diesen Menschen menschenwürdig und ohne freiheitsentziehende Maßnahmen umgehen wollen

Wir von den zuständigen Gerichten wundern uns ebenso wie die Heimaufsichtsbehörden manchmal, warum von den professionell Pflegenden so wenige neue Ideen und Konzepte für ein Weniger an Freiheitsentzug und ein Mehr an Freiheit und Selbstbestimmung kommen. Sie sollten viel offensiver ihre eigene Fachlichkeit dazu einsetzen, bahnbrechende Ideen zu entwickeln. Eine andere Zeiteinteilung, die auf die Wünsche der Bewohner ausgerichtet ist, Begleitung statt Beaufsichtigung und ein offensiver Umgang auch gegenüber Angehörigen von Heimbewohnern zur Reduzierung freiheitsentziehender Maßnahmen wie Bettgitter, Bauchgurte etc. könnten stationäre Einrichtungen ja dazu nutzen, ein eigenes Profil zu entwickeln. Im Übrigen gibt es ja die Selbstbestimmung und die Freiheit der Bewohner schützende Gesetze und Vorschriften z.B. im Hessischen Betreuungs- und Pflegeleistungsgesetz, die aber oft leider nicht zur Kenntnis genommen und nicht umgesetzt werden. So haben immer noch viele Heimleitungen keine Konzepte nach dem genannten Gesetz vorgelegt, wie sie zum Beispiel freiheitsentziehende Maßnahmen reduzieren wollen. Im nächsten Jahr soll daher eine gemeinsame Tagung der Stadt Frankfurt in Kooperation mit dem Betreuungsgericht stattfinden, bei der es um genau dieses Thema geht. Wir hoffen, dass die professionell Pflegenden dort exemplarisch darlegen, wo die Probleme bei der Umsetzung von mehr Selbstbestimmung und Freiheit liegen, damit wir gemeinsam darüber nachdenken können, wie Selbstbestimmung im Pflegeheim verwirklicht werden kann.

Hat der Umgang mit alten Menschen im Pflegeheim auch mit dem Bild zu tun, das in der Gesellschaft vom alten Menschen vorherrscht?

Alte Menschen kommen bei uns oft als die „fitten Alten“ vor, die in der Welt herumreisen und aktiv sind. Das sind tendenziell eher die Reichen und Gebildeten. Oder sie tauchen als multimorbide pflegebedürftige Greise auf, die ihre Selbstbestimmungsfähigkeit und das Recht dazu verloren zu haben scheinen.

Die derzeit in vielen Heimen vorherrschende Form der Pflege, die häufig genug die Selbstbestimmung einschränkt, will eigentlich keiner für sich haben. Die stationären Einrichtungen spüren schon heute und werden es in Zukunft eher noch stärker zu spüren bekommen, dass die Menschen bei ihnen nicht mehr einziehen wollen, so lange sich nichts ändert. Kleine, überschaubare, im Stadtteil vernetzte Wohn- und Betreuungsgruppen für Pflegebedürftige sind m.E. nach wohl eher als die heute üblichen großen Versorgungs- und Pflegeeinrichtungen in der Lage, mehr Selbstbestimmung und weniger fürsorglichen Zwang zu gewährleisten.

Hier sehe ich auch und vor allem die Kommunalpolitik gefordert. Es ist ihre Pflicht, die Wünsche der Menschen, wie sie im Alter wohnen wollen, zu beachten, generationenübergreifendes Wohnen und Versorgtwerden im eigenen Stadtteil zu ermöglichen und diese Anforderungen bei der Stadt- und Infrastrukturplanung im Auge zu behalten.

Interview: Lieselotte Wendl