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Interview mit dem Professor für Managementtechniken im Gesundheits- und Pflegewesen Wilfried Schlüter

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Wilfried Schlüter ist Professor für Managementtechniken im Gesundheits- und Pflegewesen an der Hochschule Zwickau. 2010 legte er gemeinsam mit anderen die erste Studie vor, die Inkontinenz in Pflegeheimen unter dem Aspekt der Würde der Bewohner untersuchte.

SZ: Herr Professor Schlüter, sind Pflegeheime ausreichend auf den Umgang mit bis zu 74 Prozent inkontinenten Bewohnern vorbereitet?

Schlüter: Das muss man differenziert betrachten. Das eine sind die Hilfsmittel, die zur Verfügung stehen. Gute Produktschulungen gibt es auch. Das andere, wichtigere, ist aber der einfühlsame und professionelle Umgang der Mitarbeiter mit dem Thema Inkontinenz. Hier gibt es eindeutig Verbesserungspotenziale.

Welche Verbesserungsvorschläge machen Sie?

Es bedarf eines sensibleren Umgangs mit der Sprache. Nötig ist eine wertschätzende Sprache, keine kindliche Sprache und keine Fäkalsprache wie „hast Du Dich wieder vollgeschissen“. So etwas geht nicht, passiert aber leider immer wieder. Und es geht um Ehrlichkeit in der Kommunikation. Wenn ein Pflegeheimbewohner Harndrang hat, im Speiseraum uriniert und jemand sagt: „Das ist doch nicht so schlimm“ dann ist das nicht ehrlich. Was glauben Sie, wie schlimm das für den Betroffenen ist? Wichtig ist es zudem, Rituale beizubehalten. Wie viele haben früher ihre Zigarette mit aufs Klo genommen und hatten keine Abführprobleme. Jetzt dürfen sie es nicht mehr und erhalten stattdessen Abführmittel. Warum? Ich war jahrelang selbst Heimleiter und bin ein Anhänger der Normalität. Die Sensibilität dafür wünsche ich mir. Das ist ein Thema für Leitungskräfte, die das ihren Mitarbeitern vermitteln müssen. Was ich auch für wichtig halte: keine bevormundenden Formulierungen à la ‚ jetzt müssen wir mal zum Klo gehen‘. Durch Fortbildung und Reflexion können wir eine Menge erreichen.

Was müsste sich strukturell ändern?

Da müssen wir das Qualitätsmanagement und die Weiterbildung betrachten. In Personal-Auswahlverfahren könnte man beispielsweise die Frage stellen, wie eine Leitungskraft das Thema Inkontinenz in einer Team-Besprechung aufgreifen würde. Es könnte ein Auswahlkriterium für die Besetzung der Stelle sein, wie eine Leitungskraft im Pflegeheim ethisch mit dem Thema Inkontinenz umgeht. Der Expertenstandard zur Kontinenzförderung wird leider viel zu wenig genutzt. Er wird zwar gelesen, aber viel zu selten praxisbezogen in bestehende Systeme eingebaut. In unserer Studie über die würdevolle Inkontinenzversorgung für Bewohner von Altenpflegeheimen schlagen wir auch vor, bauliche Dinge verstärkt zu fördern. Das fängt beim nötigen Sichtschutz in Mehrbettzimmern an.

Mehrbettzimmer werden ja Zug um Zug abgeschafft…

Es geht auch um die eigene Toilette, beziehungsweise den eigenen WC-Stuhl. Wie oft werden Toilettenstühle für mehrere Bewohner eingesetzt. Das ist nicht nur unhygienisch.

Wie hoch sind denn die Pauschalen für Kontinenzmaterial, Heime klagen, sie seien zu niedrig?

Wir haben monatliche Pauschalen in Höhe von 33 Euro im Osten und 39 Euro im Westen. Da kommen die Kollegen nicht damit hin. Jeder Bewohner muss individuell die Materialien bekommen, die er aufgrund seiner Inkontinenz braucht, nicht weniger, aber auch nicht mehr, ich bin gegen das Gießkannenprinzip.

Wo sehen Sie weiteren Handlungsbedarf?

Handlungsbedarf sehe ich auch bei der Reflexion des beruflichen Handelns. Wohnbereichsleitungen sollten  ein Monitoring, also ein systematisches Beobachten  der Mitarbeiter zum Thema „Würde und Inkontinenz“ machen. Wenn wir im mittleren Management gute Leute haben, dann geht es sowohl den Bewohnern als auch den Mitarbeitern gut.

Interview: Susanne Schmidt-Lüer