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Als Dezernentin für Soziales, Jugend, Familie und Senior:innen hat Elke Voitl seit ihrem Amtsantritt im September 2021 alle Hände voll zu tun. Doch das hohe Arbeitspensum schrecken die Stadträtin und ihr Team nicht ab. Im Interview mit Mirco Overländer erklärt Voitl, dass ihr auch große Herausforderungen keine schlaflosen Nächte bereiten und warum soziale Teilhabe für sie Grundvoraussetzung einer friedvollen Stadtgesellschaft ist.

Foto: Stadt Frankfurt/ Salome Roessler

Frau Voitl, seit Sie das Sozialdezernat übernommen haben, hat sich die Welt fundamental verändert. Hätten Sie sich auch mit dem Wissen von heute vor rund einem Jahr für diesen Job entschieden?
ELKE VOITL: Ja, das hätte ich auf jeden Fall. In der Arbeit unseres Dezernats geht es sehr oft um menschliche Einzelschicksale, bei denen unsere Hilfe direkt ankommt. Das ist sehr erfüllend. Mein Team und ich definieren unsere Arbeit so, dass wir das soziale Leben in dieser Stadt gestalten und nicht die Armut verwalten wollen. Bei der Fülle an Herausforderungen ist es sehr hilfreich, auf ein gut strukturiertes Team und klar umrissene Aufgaben bauen zu können. Für mich ist das eine wunderbare Position, Lösungen herbeiführen zu können. Für mich ist es ein großes Glück, einer Arbeit mit hoher Selbstwirksamkeit nachzugehen.
 
Ihr Dezernat arbeitet in Anbetracht der Fülle an Aufgaben sehr geräuschlos und effizient. War es für Sie von Vorteil, als gut vernetzte Kennerin der Verwaltung Sozialdezernentin zu werden?
VOITL: Natürlich war das für mich ein Vorteil, dass ich mich sowohl in der Verwaltung als auch in der Kommunalpolitik auskenne. Auch, dass ich gelernte Sozialarbeiterin bin und selbst praktische Erfahrungen in diesem Bereich sammeln konnte, ist sicher kein Nachteil. Diese Kombination aus Erfahrungen hilft mir sehr, die Probleme aus den verschiedenen Perspektiven zu erfassen und auf die Expertise von Trägern und Verwaltung zu vertrauen. Natürlich schadet es auch nicht, sich mit Sozialgesetzgebung auszukennen und über einige direkte Kontakte in Politik, Verwaltung und bei unseren Trägern zu verfügen.
 
Die Aufnahme von Geflüchteten aus der Ukraine hat die Stadtverwaltung sehr spontan vor große Herausforderungen gestellt. Ist Frankfurt bei Unterbringung und Versorgung der Menschen gut aufgestellt?
VOITL: Als Russland den völkerrechtswidrigen Angriff auf die Ukraine am 24. Februar begann, war uns allen im Dezernat vom ersten Tag an klar, welche Folgen das auch für uns in Frankfurt haben würde. Unser Ziel war und ist es, stets vor der Lage zu sein. Das bedeutet: Kein:e Geflüchtete soll auf dem Bahnsteig übernachten müssen. Das ist uns bisher gelungen. In stadtweit über 120 Unterkünften leben derzeit so viele Geflüchtete in Frankfurt wie noch nie. Uns wurden vom Land Hessen im vergangenen Jahr rund 8500 Menschen zugewiesen. Damit haben wir unseren Zuweisungs-Schlüssel übererfüllt. Hinzu kommen tausende ukrainische  Geflüchtete, die privat untergekommen sind. Deren genaue Zahl lässt sich nur schwer erfassen.

Rechnen Sie in den kommenden Monaten mit einer erneuten Anspannung der Lage?
VOITL: Wenn man auf die Ukraine schaut, wo viele Menschen ohne Wasser und ohne Strom durch den Winter kommen müssen, rechne ich damit, dass sich die Lage weiter zuspitzt. Vor diesem Hintergrund planen wir für alle Szenarien und natürlich auch weitere kurzfristige Lösungen. Frankfurt ist ein sicherer Hafen und es ist unsere Aufgabe, zu helfen, wo wir können. Ich sehe aber auch die anderen Kommunen in der Pflicht. Denn in Frankfurt fehlt es schlicht an Gebäuden und Fläche: Wir brauchen aber Wohnraum, Kita- und Schulplätze, um Menschen aufnehmen und integrieren zu können. Wir sind vor allem an langfristigen Lösungen interessiert, denn es ist weitaus weniger aufwendig, kostengünstiger und zudem sinnvoller, Menschen eine dauerhafte Wohn- und Lebensperspektive zu geben als sie temporär unterzubringen.
 
Ob im Bahnhofviertel, bei den gestiegenen Energie-Preisen, den Nachwirkungen der Corona-Pandemie oder jetzt bei der Versorgung der Geflüchteten aus der Ukraine: Ihr Dezernat ist stets mittendrin, aber auf starke Partner angewiesen, um Lösungen anzubieten. Würden Sie sich eher als Mittlerin oder als Macherin beschreiben?
VOITL: Ich will und muss beides können. In diesem Bereich ist es sehr wichtig, über kommunikative Kompetenz zu verfügen. Natürlich muss ich die Expertise unserer Träger berücksichtigen und deren personelle Ressourcen kennen. Es gibt aber auch vieles, das einfach entschieden werden muss. Aus diesem Grund haben wir uns im Dezernat von einem Jahr zusammengesetzt und sehr systematisch unsere Aufgaben skizziert. Ein gutes Controlling ist sehr hilfreich, um inhaltlich zu begründen, was möglich ist und was nicht.
 
Welche Möglichkeiten hat das Sozialdezernat, um konkret auf eine Besserung der Situation im Bahnhofsviertel hinzuarbeiten?
VOITL: Was in unserer Macht liegt, ist bestehende Angebote zu verbessern und auszuweiten. Die Lage im Bahnhofsviertel wird von vielen unterschiedlichen Faktoren beeinflusst: Dort kommen die Drogenproblematik, Obdachlosigkeit, sicherheitsrelevante Themen, Gentrifizierung und soziale Ungleichheit zusammen. All das lässt sich nicht im Alleingang, sondern nur im Zusammenspiel der verschiedenen Akteure lösen. Klar ist aber auch: Der akzeptierende Ansatz im Frankfurter Weg mit seinen verschiedenen Säulen wird weiter bestehen und weiterentwickelt werden. Unsere Sozialarbeiter:innen können im Viertel Angebote machen, aber niemanden dazu zwingen, diese auch anzunehmen. Übrigens kommen die Abhängigen nicht nach Frankfurt, weil es nur hier Drogen gibt, sondern weil wir über umfassende Hilfsangebote verfügen. Diese würde ich mir in diesem Maße auch in anderen Städten wünschen.
 
Die weiterhin angespannte Haushaltslage betrifft natürlich auch die Arbeit Ihres Ressorts. Welches Thema würden Sie gerne (verstärkt) angehen, wenn hierfür die nötigen Mittel vorhanden wären?
VOITL: Unser prominentestes Thema ist die Armut; speziell im Bereich Kinder und Senior:innen. Armut wird oft als materielles Problem verstanden. Uns geht es aber auch um die Bekämpfung gesellschaftlicher und sozialer Armut. Unser Job ist es, gesellschaftliche Teilhabe für alle zu ermöglichen. Das umfasst auch Barrierefreiheit und behindertengerechte Angebote. Wir möchten daher die Sozialberichterstattung verändern und nicht nur nach Quantität, sondern auch nach Qualität bemessen und entsprechend neue Multiplikatoren einbinden. Denn der soziale Frieden in dieser Stadt ist ein hohes Gut, von dem alle profitieren. Daher müssen wir allzu großen Ungleichheiten der Teilhabemöglichkeiten am gesellschaftlichen Leben entgegenwirken.

Was bedeutet das konkret?
VOITL: Zwei Beispiele: Es ist gut, dass der Museumseintritt für Kinder kostenlos ist. Doch viele Kinder benötigen vor allem jemanden, der die Zeit und die Fähigkeit hat, mit ihnen dorthin zu gehen und ihr Interesse zu wecken. Das kann eine Leih-Oma sein, ein:e Sozialpädagog:in oder eine engagierte Lehrkraft. Ein anderes Beispiel sind Angebote wie Senior:innentreffs: Viele Ältere schämen sich für ihre Armut und würden von sich aus nie um Hilfe fragen. Durch niederschwellige Angebote wie ein offenes Frühstück in Senior:innentreffs wird die Hemmschwelle gesenkt. Vielleicht kommt der oder die andere Senior:in beim dritten oder vierten Besuch mit eine:r Sozialarbeiter:in ins Gespräch und berichtet erst dann von ihrer oder seiner Notlage. Wir wollen die Botschaft vermitteln: In dieser Stadt soll sich kein Mensch für seine Armut schämen müssen. Dafür brauchen wir neben niederschwelligen Angeboten auch wieder mehr aufsuchende Sozialarbeit.
 
Sie sind mit einem echten Kaltstart im Sozialdezernat angekommen und hatten gleich mehrere von außen in die Stadt getragene Krisen zu bewältigen. Wünschen Sie sich für Ihre weitere Amtszeit etwas mehr Ruhe?
VOITL: Ich glaube, mein Team wünscht sich das bestimmt (lacht). Ich bin gerne beschäftigt und es wird auch immer wieder eine neue Herausforderung kommen. Das liegt im Wesen unserer Zeit. Die Arbeit im Sozialbereich lebt nicht nur von der Expertise der Akteur:innen, sondern auch von deren Überzeugung, etwas Sinnvolles zu machen. Das ist einerseits sehr befriedigend, andererseits müssen wir als Team aufeinander aufpassen, dass wir nicht über die Grenzen des Leistbaren hinausgehen. Da wir aber bisher alle Herausforderungen ganz gut gemeistert haben und unsere Arbeit mit Freude bewältigen, sehe ich uns auf einem guten Weg – zumal sich inzwischen gewisse Routinen eingestellt haben, die uns allen die Arbeit erleichtern.
 
Welche Vorhaben liegen Ihnen in den kommenden Jahren besonders am Herzen?
VOITL: Mir geht es um die Gestaltung des sozialen Lebens in dieser Stadt. Kulturelle und soziale Teilhabe sind keine Themen, die nur Bedürftige betreffen, sondern alle Menschen, die hier leben. Wenn ich mir etwas wünschen dürfte, wären das geeignete Flächen und Gebäude für die langfristige Unterbringung und Betreuung von Geflüchteten und wohnungslosen Menschen, mehr qualifiziertes Personal auf dem Arbeitsmarkt und mehr Teilhabe für Kinder, Jugendliche und Senior:innen. Realistisch betrachtet arbeiten wir mit dem was wir haben. Daher ist unser Ziel, die Träger, mit denen wir zusammenarbeiten, zu stärken, indem wir noch enger zusammenarbeiten und gemeinsam Prozesse zu optimieren, um mehr Raum für qualifizierte inhaltliche Arbeit zu schaffen.
 
Zur Person:
Elke Voitl, Jahrgang 1969, ist seit 9. September 2021 Dezernentin für Soziales, Jugend, Familie und Senior:innen. Sie ist zuständig für das Jugend- und Sozialamt, die Kommunale Kinder-, Jugend- und Familienhilfe, die Stabsstelle Unterbringungsmanagement und Geflüchtete, die Stabsstelle Inklusion und für die gemeinsame Einrichtung des Jobcenters Frankfurt am Main. Die Diplom-Sozialarbeiterin war als Jugendhilfeplanerin, stellvertretende Leiterin des Frankfurter Frauenreferates und ab 2012 als Büroleiterin in diversen Dezernaten in den Bereichen Frauen-, Bildungs- und Gesundheitspolitik tätig.